Zahlen, bitte! Atomvernichtung der USA durch bis zu 360 Bomben

Das Forschungsinstitut RAND berechnete, mit wie vielen Atombomben die USA vernichtet werden könnte – nebenbei entstanden Pläne von Satelliten bis zum Internet.

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(Bild: heise online)

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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Am 14. Mai 1948 wurde in den USA die RAND Corporation, einer der bekanntesten Thinktanks der Welt, als unabhängige, gemeinnützige Institution gegründet. RAND, das Kürzel steht für Research ANd Development, sollte vor allem die im Zweiten Weltkrieg enorm gewachsene US Air Force, die amerikanische Luftwaffe, strategisch und wissenschaftlich beraten.

Man spielte "Kriegsspiel" – die RAND-Wissenschaftler benutzten das deutsche Wort – und fertigte verschiedene Studien an. Die erste größere Studie erschien im November 1951 unter dem Titel "The Use of Experts for the Estimation of Bombing Requirements". Sieben Experten wurden per Fragebogen befragt, wie viele Atombomben die Sowjetunion benötigt, um die USA irreparabel zu beschädigen. Ein Experte schätzte, dass 167 Bomben ausreichen würden, ein anderer kam auf deren 367.

RAND entstand aus einer Idee von Harry Arnold, oberster Kommandeur der Air Force. Er wollte sicherstellen, dass die führenden Wissenschaftler, die im Krieg für die USA forschten, auch in Friedenszeiten für die Truppen arbeiten. Mit dem "Project RAND" sollte ein Forschungsinstitut entstehen, in dem Ingenieure, Physiker und Mathematiker sich mit neuen Technologien beschäftigen. Arnold gab der Douglas Aircraft Corporation 10 Millionen Dollar, ein solches Institut zu errichten, das sich nach dem "Warfare" mit "Peacefare" beschäftigen sollte.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Die Firma hatte mit dem Bau von zuverlässigen Flugzeugen im Weltkrieg sein Vertrauen erworben. Bei Douglas Aircraft nahm man den lukrativen Auftrag an und betraute Frank Collbohm mit dem Aufbau des Institutes und der Forschung. Neben Physikern wurden zunächst viele Mathematiker eingestellt, die im Krieg beim Applied Mathematics Panel gearbeitet hatten.

Das erste Ergebnis lag 1946 mit der Denkschrift Preliminary Design of an Experimental World-Circling Spaceship vor: Die Wissenschaftler schlugen den Bau eines Satelliten vor, der die Erde umkreist und beobachtet. "Die Vorteile eines Raumflugkörpers würden Auswirkungen haben, die mit der Wirkung von Atombomben vergleichbar sind", schrieben die Wissenschaftler unter der Leitung von Robert M. Salter. Damit lagen die Wissenschaftler nicht ganz falsch. Als die Sowjetunion 1957 den Sputnik-Satelliten ins Weltall schoss, löste das in den USA einen Schock aus, der zur Gründung der militärischen Forschungsagentur ARPA führte.

Die unmittelbare Wirkung der Denkschrift war indes die Erkenntnis, dass das Project RAND nicht in einer Firma wie Douglas Aircraft funktionierte. Viele der von den Forschern befragten Firmen argwöhnten, dass Douglas eine neue Form der Industriespionage aufziehen würde und beschwerten sich bei der Air Force. Die Lösung war die Loslösung und Einrichtung der RAND Corporation als unabhängiges kalifornisches Institut, was mit zusätzlichen Mitteln der Ford Foundation geschah. Bereits die nächste 1949 veröffentlichte RAND-Studie der damaligen Mitarbeiter Abraham Kaplan, Meyer Abraham Girshick und A. L. Skogstad "The Prediction of Social and Technological Events" erschien gleichzeitig als geheimes RAND-Papier und als redigierte Veröffentlichung in der Zeitschrift Public Opion Quartely.

Das Haupquartier der RAND Corporation in Santa Monica, Kalifornien.

(Bild: CC BY-SA 4.0, Coolcaeser)

Auf der Basis dieser Analyse zur Qualität von Experten-Vorhersagen entwickelte der aus Deutschland ausgewanderte Mathematiker Olaf Helmer das Konzept einer mehrstufigen Fragebogen-Umfrage unter Experten, die später als Delphi-Methode bekannt wurde. Helmer und sein Assistent Norman Dalkey befragten sieben Experten, mit wie vielen Atombomben vom Hiroshima/Nagasaki-Typ (20 KT) die Sowjetunion die USA zerschlagen könnte.

Vier Ökonomen, ein "physical-vulnerability specialist", ein Systemanalytiker und ein Elektronikingenieur gaben anonymisiert zunächst zwischen 50 und 5000 Atombomben an. In weiteren Fragebogen-Runden wurde die Zahl schließlich auf 167 bis 360 Bomben konkretisiert und mit dem RAND-Bericht "The Use of Experts for the Estimation of Bombing Requirements" veröffentlicht. Der Bericht war zehn Jahre lang streng geheim und konnte erst 1962 in einer gekürzten Form unter dem Titel "The Systematic Use of Expert Judgment in Operations Research"[PDF] veröffentlicht werden.

Im US-amerikanischen Militär gab es auf diesen RAND-Bericht zwei Reaktionen: er wurde von der US-Navy (die Jagdflieger auf Flugzeugträgern besaß) abgelehnt, von der Air Force (mit ihren Langstreckenbombern) aber begrüßt, da in ihrer Sicht ein Bombardement der Sowjetunion die einzig mögliche äquivalente Antwort darstellte. Albert Wohlstetter, ein Freund von Olaf Helmer, schrieb 1958 basierend auf der Studie den einflussreichen RAND-Bericht "The Delicate Balance of Terror". Seine Bomben-Faszination parodierte der Regisseur Stanley Kubrick im Film "Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben".

Auch das Verteidigungsministerium beschäftigte sich mit der Frage, wie die Kommunikation gesichert werden kann. Am 29. Mai 1961 berichtete die New York Times, dass in Utah drei Sendemasten der US Army gesprengt wurden und dadurch die Truppe im gesamten Bundesstaat nur über das öffentliche Telefonnetz kommunizieren konnte. Das FBI ermittelte vier Täter, die der extremistischen American Republican Army angehörten. Am 3. November schrieb die Times, dass nach Einschätzung des Verteidigungsministeriums weitere schwere Bombenattacken erwartet werden. Das RAND bekam den Auftrag, eine Studie zu den Abwehrmaßnahmen durchzuführen.

Olaf Helmer war es, der den Spieltheoretiker John D. Williams, bei RAND Leiter der Mathematik-Abteilung, davon überzeugen konnte, dass Sozialwissenschaftler an der Erforschung der Konflikte und Möglichkeiten beteiligt werden müssen. Zwar hatte bereits das "Project RAND" 1948 eine Conference of Social Scientists [PDF] veranstaltet, doch hatte die Douglas Corporation keinen Sozialwissenschaftler angestellt. So kam der deutsche Emigrant Hans Speier als Leiter dieser Abteilung zum RAND, wo er sich inmitten all der Bombenplanungen an einer Theorie des humanen Einsatzes von Atombomben im Luftkrieg versuchte.

Für Statistiker und Forschungsgebiete, die Zufallszahlen benötigten, war das 1955 erschienene "A Million Random Digits mit 100.000 Normal Deviates"[PDF] ein wichtiges Dokument. Darin wurden in 10.000 Zeilen Zufallszahlen veröffentlicht. 2001 erschien eine von manch' Zahlen, bitte!-Enthusiasten sicherlich lang erwartete Neuauflage des Werks, die bei Amazon in amüsanten Rezensionen Widerhall fand.

Noch wichtiger war 1959 die Ankunft des Computerspezialisten Paul Baran. Die bald eng befreundeten Männer überlegten, wie die USA im Bomben-Luftkrieg überleben könnte und wie die Militärs unter diesen Bedingungen kommunizieren sollen. Aus diesen Überlegungen entwickelte Baran in elf Teilen den großangelegten RAND-Report On Distributed Communication. Gleich der erste Teil Introduction to Distributed Communications Networks beschäftigte sich mit der Frage, wie Informationen bei Ausfall eines Knotens in einem Kommunikationsnetzwerk umgeleitet werden können. Der Grundstein zum militärischen Arpanet und dem späteren Internet war so gelegt, jedenfalls in der Theorie.

In den Erinnerungen an seine Zeit am RAND (PDF) spricht Olaf Helmer davon, wie er und Paul Baran sehr unzufrieden damit waren, wie die Vorschläge der Forscher zum Krieg in Vietnam bei den politischen Beratern der US-Regierung auf taube Ohren stießen. Vom Beginn des Krieges bis zum Jahre 1970 wurden mehr als 150 Studien über Vietnam geschrieben. Helmer schlug er vor, jedem Vietcong, der sich ergab, eine Starthilfe von 1000 Dollar zu zahlen oder die Napalm-Bomben durch humanere Gas-Bomben zu ersetzen, die die Bevölkerung nur zeitweise betäuben sollten.

Helmer und Baran verließen RAND und gründeten 1968 zusammen mit dem Saturn-Raketenkonstrukteur Theodore Jay Gordon das heute noch existierende Institute for the Future (IFTF), um die Qualität von Delphi-Studien zu verbessern und Zukunftsprognosen zu erstellen. In Helmers Erinnerungen findet sich freilich auch eine Passage, dass er den Whistleblower Daniel Ellsberg dafür bewunderte, die Pentagon Papers veröffentlicht zu haben. Damit habe er die Ehre des RAND wieder hergestellt. In diesem Kontext sollte auch an den RAND-Mitarbeiter Anthony Russo erinnert werden, der beim Verfassen seiner Berichte aus Vietnam zum leidenschaftlichen Kriegsgegner wurde und RAND verlassen musste.

(mawi)